30.10.2017
Dr. Erwin Fischer, Hannover, Vorstandsmitglied der KTG
Liebe KTG'ler und atw-Leser, „Disruptive Entwicklung“ ist ein im Mainstream der letzten Jahre prominent benutzter Begriff, der neugierig macht, soweit wir uns nicht schon selbst mit seiner Bedeutung und den Hintergründen genügend befasst und versucht haben, eine eigene Vorstellung darüber zu entwickeln.
Hierzu zunächst eine kurze Geschichte aus dem schon weitgehend zurückgebauten
Kernkraftwerk Stade. Was war geschehen?
Bei einer außerordentlichen Wiederkehrenden Funktionsprüfung war ein neu
entwickeltes und installiertes Abblaseventil am Druckhalter in Stellung „offen“
gebliebenen. Für die Stromproduktion des Kernkraftwerkes ein disruptives
Ereignis.
Um zur Aufklärung des Ereignisses beizutragen, wurden weitreichende
Verbesserungen und weitergehende Vorsorgemaßnahmen gegen Wiederholung
identifiziert, um für den weiteren Leistungsbetrieb des Kernkraftwerkes die
erforderliche Schadensvorsorge sicherzustellen.
Zurückblickend gesehen, wurde nach der Neuentwicklung der Ventile, durch dieses
Ereignis die Weiterentwicklung der Komponenten – disruptiv initiiert – beschleunigt.
Die analytischen und technischen Herausforderungen zur Bewertung des
Ereignisses waren – ingenieurtechnisch gesehen – sehr komplex, insofern war die
Herausforderung an alle Beteiligten zum Auffinden der Ursachen außergewöhnlich
hoch.
Im Kernkraftwerk Stade ist es dann in der Folge zu einer nachhaltigen
Weiterentwicklung der damals neu nachgerüsteten Abblase- und Sicherheitsventile
gekommen. Nur wenige Jahre später sind diese Ventile in weiteren
Kernkraftwerken in Deutschland und danach weltweit zum Einsatz gekommen. Dort
verrichten sie bis heute ihre bestimmungsgemäßen Aufgaben, wirksam und
zuverlässig, entstanden durch ein disruptives Ereignis und daraus
resultierenden Entwicklungen.
Aus meiner Sicht eine Geschichte aus dem Leben eines Kerni´s, die zeigt, dass
disruptive Ereignisse Initialpunkte für weitere Entwicklungen sein können und
nachweislich auch sind. Sie führen zu mit hohem Engagement getriebenen
Veränderungen – hier – Verbesserungen bezüglich der Wirksamkeit und
Zuverlässigkeit von Sicherheits- und Abblaseventilen.
Aus philosophischer Sicht war ein besonderes disruptives Ereignis der Anlass,
die menschliche Einsicht zu wecken, Ideen, Willens- und Schaffenskraft
freizusetzen, die in ihrem Wirkungsergebnis zu einer nachhaltigen
Wertbeständigkeit einer Einrichtung führt, die für den weiteren Betrieb des
Kernkraftwerkes als Wertbeitrag zwingend erforderlich war und ist.
Neben dieser persönlich erlebten Geschichte gibt es wahrscheinlich unzählig
viele andere Beispiele aus unserem Berufs- und Lebensalltag, oder auch in ganz
anderer Dimension in die Weltgeschichte zurück geblickt, die wir in ähnlich
systematischer Weise sehen können.
Vielfach führen besonders bemerkenswert erlebte Ereignisse zu – disruptiv –
initiierten Entwicklungen, im Sinne von Weiter- oder Neuentwicklungen oder aber
auch zu grundsätzlich neuer Orientierung mit Entscheidungen für Neues. Als
Beispiele seien hier genannt, die erste Kernspaltung, initiiert und entdeckt
hier bei uns in Deutschland durch Otto Hahn im Jahr 1938, das Ende des zweiten
Weltkriegs durch die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki oder die
kerntechnischen Unfälle in Tschernobyl und Fukushima.
Diese Ereignisse sind – jedes für sich betrachtet – disruptive
Initialereignisse für neuen Antrieb zu verändertem Handeln und – philosophisch
gesehen – für das Streben nach einer scheinbar besseren Welt.
Die Entdeckung der Kernspaltung war ein erster wesentlicher Schritt auf dem Weg
zur Erschließung einer Energiequelle durch Menschenhand, die Urquell aller uns
heute bekannten Energieformen ist. Alle auf der Erde vorhandenen Energieformen
gründen sich auf Kernenergie, oder präziser gesagt, auf die in den Atomkernen gebundene
und freisetzbare Bindungsenergie der Nukleonen. Durch die Möglichkeit des
menschlichen Zugriffs auf diese Energieform wurde eine Energiequelle
erschlossen, die in ihrer Energiedichte alles bis dahin Bekannte in den Schatten
stellte. Sie wird durch Kernspaltung oder durch Kernfusion nutzbar.
In Form der Kernwaffen leider auch als Instrument der Macht, in Form der
friedlichen Nutzung aber insbesondere als Energiequelle zur Erzeugung von Wärme
und elektrischen Strom. Heute, ca. 80 Jahre später geschieht dies – weltweit
gesehen – in fast 500 Kernkraftwerken. Der beschlossene Ausstieg aus der
Kernenergie in Deutschland ist dabei, gemessen an der Gesamtzahl der zukünftig
weltweit vorhandenen Kernkraftwerke, eher von geringerer Bedeutung.
Die Ereignisse von Tschernobyl und Fukushima führten nur in wenigen Ländern der
Welt zum unmittelbaren und mittelbaren Ausstieg aus der friedlichen Nutzung der
Kernenergie. Nach meinem Verständnis deshalb nicht, weil der von den
Gesellschaften in diesen Ländern gesehene Wert und Nutzen dieser Technologie höher
eingeschätzt und wahrgenommen wird, als gegenwärtig in weiten Teilen der
Gesellschaft in Deutschland. Als Maßstab dienen in diesen Ländern immer noch
Umweltverträglichkeit, Versorgungssicherheit und Wirtschaftlichkeit.
Die insgesamt darstellbaren Chancen der Nutzung dieser Technologie werden in
diesen Ländern weit höher gesehen als die Risiken. Als Maßstab dienen der
sachlich darstellbare Nutzen und weniger unterdrückte oder übersteigerte
Gefühlsmomente der Gesellschaften in Bezug zum Risiko- und Restrisiko oder gar
deren ethische Extreminterpretationen.
Die disruptiven Ereignisse von Tschernobyl und Fukushima mit großen
Auswirkungen auf die Umgebung führten auch zu einem bedeutsamen und
weitergehenden Anspruch und zu Verbesserungen bezüglich der Sicherheit der
Kernkraftwerke weltweit.
Sie führten – deterministisch und probabilistisch – bewertet zu noch mehr
Sicherheit und Robustheit der Anlagen bei möglichen Ereignissen von außen und
von innen, zur Vermeidung von Ereignissen, zur Beherrschung der Folgen von
dennoch eintretenden Ereignissen und darüber hinaus zu weiteren Maßnahmen zur
Begrenzung der Folgewirkungen von nicht beherrschbaren Ereignissen im
Risikobereich. Es wurden technische Nachrüstungen umgesetzt und weitergehende
organisatorische und administrative Vorkehrungen als Verbesserungen eingeführt
und etabliert.
Nach Fukushima wurde aber auch mehr als vorher bewusst, dass das
Kulturverständnis und die gelebte Sicherheitskultur in den internationalen und
nationalen nuklearen Communities, in den Institutionen von Hersteller,
Betreibern, Gutachter und Behörden von beitragender hoher Bedeutung für die
erreichbare Sicherheit und den sicheren Betrieb der Kernkraftwerke sind.
Sicherheits-, Führungs-, Arbeits- und Leistungskultur in ihrer Gesamtheit
entlang der ganzen Wertschöpfungskette für den Betrieb der Kernkraftwerke
bilden neben der technischen Ausführung einen wesentlichen Beitrag zur
erreichbaren Sicherheit.
Zurück zum Philosophischen:
Nach meinem persönlichen Verständnis sind die Entwicklungen in unseren
Lebenswirklichkeiten getrieben von den Wert- und Wunschvorstellungen der
Menschen in ihrer Zeit. Entwicklungen, neu orientiert, neu initiiert oder beschleunigt,
einerseits durch z. B. neue Möglichkeiten aus der Technologie, aus Kapital,
Nachfrage usw., aber andererseits auch durch neue Wünsche und
Wertvorstellungen – ideologisch, politisch, sachlich oder gefühlt geprägt – zu
Themen, die unser Lebensgefühl positiv zum persönlichen und/oder
gemeinschaftlichen Nutzen beeinflussen. Um insbesondere das Gefühl als
gewichtiges Moment unseres Willens zu prägen, waren gestern und sind heute alle
zeitgemäßen Mittel der Kommunikation recht, um Minderheitsmeinungen zu
Mehrheitsmeinungen zu machen. Wenn „Fake News“ das Gefühl als Entscheidungsgrundlage
prägen, dann werden sie, der Macht wegen, genutzt. Insbesondere das
zeitbezogen beeinflusste und ggf. veränderte Gefühl der Menschen führt zu
Verschiebungen in der Wichtung der persönlichen Werttreiber in unseren Köpfen.
Beispiel: Energiewende im Bereich der Stromerzeugung
Im magischen Dreieck der drei Dimensionen Umweltverträglichkeit,
Versorgungssicherheit und Wirtschaftlichkeit ist in den letzten zwanzig Jahren
bei uns eine deutliche Verlagerung der gesellschaftlichen Wichtung in Richtung
Umweltschutz und -verträglichkeit erkennbar, nach Fukushima zu Lasten der
Versorgungssicherheit und Wirtschaftlichkeit. Mit der Vorstellung bzgl. der
Folgen für die Versorgungssicherheit: „Das werden unsere Ingenieure schon
schaffen!“, oder zur Wirtschaftlichkeit: „Das können wir uns als Gesellschaft
schon leisten! Die Menge der Erneuerbaren wird zum Treiber für wesentliche
Kosteneinsparungen führen!“ Stabilitätsfragen im Potentialfeld dieser drei
Dimensionen bleiben zunächst außer Acht. Die Stabilität wird heute mühsam
erhalten, jeder Aufwand und jede Belastung scheint gerechtfertigt.
Instabilitäten im Bereich der Versorgungssicherheit und Wirtschaftlichkeit
wären aber wahrscheinlich wiederum disruptive Ereignisse mit Folgewirkungen
und korrektiven Entwicklungen.
Liebe Leser,
außerordentliche, „disruptive Ereignisse“ können aus sachlicher Wahrnehmung und
Wertung, aber insbesondere auch initiiert aus dem Gefühl der Menschen, eine
Massensehnsucht nach Anderem oder nach Veränderungen erzeugen und fördern.
Es bilden sich neue Wertvorstellungen aus, die uns treiben und neuer Maßstab
für unser Denken, Entscheiden und Handeln werden. Wir streben dann an, was wir
als Einzelne, wir als Gemeinschaft oder wir als Gesellschaft – demokratisch
gesetzt – als Wert und für gut und richtig zu finden haben, z. B. bei uns die
Energiewende.
Die Energiewende als Ausdruck für den menschlichen Traum, der Natur auf Erden
in verträglicher Weise das abgewinnen zu können, was uns zu einem komfortablen
Leben in unserer Zeit und darüber hinaus führt. Dies im Einklang mit der Natur,
im Sinne der Nachhaltigkeit nur so viel der Natur zunehmen, das sie für uns in unerschöpflicher
Weise und rückwirkungsfrei verfügbar bliebe.
Wie viel wir entnehmen dürfen, wie hoch unser Anspruch sein darf, um nachhaltig
zu bleiben, ist uns bis heute nicht gewiss? Mehr Bescheidenheit scheint erforderlich!
Aber eins ist mir aus der Erfahrung der Geschichte gewiss, eine unstetige
Veränderung in diesem Prozess – durch ein disruptives Ereignis- kann die Wertvorstellungen
der Menschen in unserer Gesellschaft relativ schnell wieder verändern oder
korrigieren. Ein Blackout z. B. ist somit unbedingt zu vermeiden. Er hätte aus
meiner Sicht ein solches, disruptives Potential, wegen der ggf. katastrophalen
Folgen.
Uns bleibt die Frage, was ist leistbar, was ist vernünftig, was und wieviel
sind verträglich? Ein Thema, welches uns bleibt, für noch viele Stunden
Diskussion, Diskurs und Entscheidungen über unser Leben und unsere
Lebensbedingungen und Möglichkeiten auf unserer Erde, über Philosophie,
Wissenschaft und Technik, Soziologie, Politik, Werte und Normen, Religion usw.
In einem persönlichen Resümee zum Thema stelle ich für mich
fest:
Unsere Entwicklungen sind getrieben von veränderten Wert- und
Wunschvorstellungen der Menschen in ihrer Zeit, mit ihren Möglichkeiten, durch
ihre Erfindungen und ihrem Verständnis zu bestimmten Themen.
Das Verständnis gründet sich heute nicht immer auf Sachargumente und Fakten,
aber scheinbar immer mehr – medial verstärkt – in nur gefühlter Weise. Ein
Nachdenken in Richtung kritischer Balance ist unsere Herausforderung.
„Disruptive Ereignisse“ beeinflussen sachlich bedingt oder gefühlt das
menschliche Denken und Handeln und können Entwicklungen zu einer
Massensehnsucht nach Anderem, Neuem und Verändertem initiieren. Sie verändern
unsere Wertvorstellungen und treiben uns mit immer wieder neu gesetzten
Maßstäben als Menschen und Gesellschaft in wiederkehrender Weise durch die
Zeit.
Wir in der KTG sollten uns unsere „Faszination Kerntechnik“ nicht ausreden
lassen und in einem ehrlich geführten Diskurs unsere Sicht darstellen, im
Rahmen unserer Jahrestagung, in den Sektionsveranstaltungen und bei allen
sonstigen Gelegenheiten
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